Filmszenen I …da fliegen droben zwanzig Wirtschaftskapitäne…in: Kasimir und Karoline. Heino Ferch – Kasimir (?) Teil 1. Autor: Ödön von Horvath, 1932

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….da fliegen droben zwanzig Wirtschaftskapitäne und herunten …haben wir bloß die schiefen Absätz und das Maul können wir uns an das Tischeck hinhaun! in: Kasimir und Karoline von Ödön von Horvath, 1932. Heino Ferch – Kasimir (ungesichert)

Vorbemerkung:

Für das Stück Kasimir und Karoline liegt uns nur die Information vor, dass Heino Ferch in der Inszenierung des Schillertheaters,  1992, eine Hauptrolle spielte. Von der Rollenfachzuordnung her nehmen wir an, es war Kasimir. Textähnlichkeiten Rolle Kasimir finden sich wieder in Deutschlandlied (Hanno), Ruprecht (Eifersuchtsmotiv) in Der zerbrochne Krug und in Samstags, wenn Krieg ist (Wolf, Eifersuchtsmotiv).

Wir haben keine Filmversion vorliegen, lesen die Szene nach bestem Können nach Librettotext. Inszenierungen von Kasimir und Karoline gibt es u.a. mit Josef Bierbichler (siehe Teaser, Bierbichler mit HF in Winterschläfer und in Das Konto) und Rosel Zech (ist die Mutter Betty Ley in Das Baby der schwangeren Toten mit Heino Ferch in der Rolle des Ehegatten Micha Brauer.)

Der Inhalt von Kasimir und Karoline paßt zu der obigen Szene von Krupp – eine Deutsche Familie. Es geht in beiden Fällen um die Wirtschaftskrise und die damit verbundenen Massenentlassungen und Arbeitslosigkeit. Ein Thema mit aktueller Brisanz. Gestern hat Karstadt Quelle Insolvenz angemeldet, zusammen mit Hertie und dem Finanzier Bayerische Landesbank ein Kollaps, der wahrscheinlich insgesamt 50.000 Menschen in die Arbeitslosigkeit entlassen wird….

Ödön von Horváths Kasimir und Karoline gehört zu den wichtigsten sozialkritischen Volksstücken aus der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts. Vor dem Schauplatz des Oktoberfestes und mit der Wirtschaftskrise Ende der 1920er Jahre als Hintergrund, erzählt das Stück die altbekannte Geschichte vom „gebrochenen Herzen“. Sein Thema ist die Inflation der Seele im Zeitalter der Massenarbeitslosigkeit. Die ausgelassene Atmosphäre auf dem Rummelplatz konterkariert die trostlose Liebesgeschichte zwischen Kasimir und Karoline.“

Quelle: theatres.lu

Storyline lang->

Ödön von Horváth

Kasimir und Karoline

Volksstück

Motto:
Und die Liebe höret nimmer auf.

Personen:

Kasimir

Karoline

Rauch

Speer

Der Ausrufer

Der Liliputaner

Schürzinger

Der Merkl Franz

Dem Merkl Franz seine Erna

Elli

Maria

Der Mann mit dem Bulldoggkopf

Juanita

Die dicke Dame

Die Kellnerin

Der Sanitäter

Der Arzt

Abnormitäten und Oktoberfestleute

Dieses Volksstück spielt auf dem Münchener Oktoberfest, und zwar in unserer Zeit. (Anm.: 1929 – 32)

1. Szene

Es wird dunkel im Zuschauerraum und das Orchester spielt die münchener Hymne »Solang der alte Peter«. Hierauf hebt sich der Vorhang.

2. Szene

Schauplatz: Gleich hinter dem Dorf der Lippennegerinnen. Links ein Eismann mit türkischem Honig und Luftballons. Rechts ein Haut-den-Lukas – (das ist so ein althergebrachter Kraftmesser, wo du unten mit einem Holzbeil auf einen Bolzen draufhaust, und dann saust ein anderer Bolzen an einer Stange in die Höhe, und wenn dann dieser andere Bolzen die Spitze der Stange erreicht, dann knallt es, und dann wirst du dekoriert, und zwar für jeden Knall mit einem Orden). Es ist bereits spät am Nachmittag und jetzt fliegt gerade der Zeppelin in einer ganz geringen Höhe über die Oktoberfestwiese – in der Ferne Geheul mit allgemeinem Musiktusch und Trommelwirbel.

3. Szene

Bildquelle und Bildrechte bei MOOVIE – the art of entertainment für ZDF.de 2009 Standfoto aus: Krupp – eine Deutsche Familie

Rauch Bravo Zeppelin! Bravo Eckener! Bravo!

ein Ausrufer Heil!

Speer Majestätisch. Hipp hipp hurrah!

Pause.

ein Liliputaner Wenn man bedenkt, wie weit es wir Menschen schon gebracht haben – Er winkt mit seinem Taschentuch. Pause.

Karoline Jetzt ist er gleich verschwunden, der Zeppelin –

der Liliputaner Am Horizont.

Karoline Ich kann ihn kaum mehr sehen –

der Liliputaner Ich seh ihn noch ganz scharf.

Karoline Jetzt seh ich nichts mehr. Sie erblickt Kasimir; lächelt. Du, Kasimir. Jetzt werden wir bald alle fliegen.

Kasimir Geh so lasse mich doch aus. Er wendet sich dem Lukas zu und haut ihn vor einem stumm interessierten Publikum – aber erst beim drittenmal knallt es, und dann zahlt der Kasimir und wird mit einem Orden dekoriert.

Karoline Ich gratuliere.

Kasimir Zu was denn?

Karoline Zu deiner Auszeichnung da.

Kasimir Danke. Stille.

Karoline Der Zeppelin, der fliegt jetzt nach Oberammergau, aber dann kommt er wieder zurück und wird einige Schleifen über uns beschreiben.

Kasimir Das ist mir wurscht! Da fliegen droben zwanzig Wirtschaftskapitäne und herunten verhungern derweil einige Millionen! Ich scheiß dir was auf den Zeppelin, ich kenne diesen Schwindel und hab mich damit auseinandergesetzt – Der Zeppelin, verstehst du mich, das ist ein Luftschiff und wenn einer von uns dieses Luftschiff sieht, dann hat er so ein Gefühl, als tät er auch mitfliegen – derweil haben wir bloß die schiefen Absätz und das Maul können wir uns an das Tischeck hinhaun!

Karoline Wenn du so traurig bist, dann werd ich auch traurig.

Kasimir Ich bin kein trauriger Mensch.

Karoline Doch. Du bist ein Pessimist.

Kasimir Das schon. Ein jeder intelligente Mensch ist ein Pessimist. Er läßt sie wieder stehen und haut abermals den Lukas; jetzt knallt es dreimal, er zahlt und bekommt drei Orden; dann nähert er sich wieder Karoline. Du kannst natürlich leicht lachen. Ich habe es dir doch gleich gesagt, daß ich heut unter gar keinen Umständen auf dein Oktoberfest geh. Gestern abgebaut und morgen stempeln, aber heut sich amüsieren, vielleicht sogar noch mit lachendem Gesicht!

Karoline Ich habe ja garnicht gelacht.

Kasimir Natürlich hast du gelacht. Und das darfst du ja auch – du verdienst ja noch was und lebst bei deinen Eltern, die wo pensionsberechtigt sind. Aber ich habe keine Eltern mehr und steh allein in der Welt, ganz und gar allein.

Stille.

Karoline Vielleicht sind wir zu schwer füreinander –

Kasimir Wie meinst du das jetzt?

Karoline Weil du halt ein Pessimist bist und ich neige auch zur Melancholie – Schau, zum Beispiel zuvor – beim Zeppelin–

Kasimir Geh halt doch dein Maul mit dem Zeppelin!

Karoline Du sollst mich nicht immer so anschreien, das hab ich mir nicht verdient um dich!

Kasimir Habe mich gerne! Ab.

4. Szene

Karoline sieht ihm nach; wendet sich dann langsam dem Eismann zu, kauft sich eine Portion und schleckt daran gedankenvoll. Schürzinger schleckt bereits die zweite Portion.

Karoline Was schauns mich denn so blöd an?

Schürzinger Pardon! Ich habe an etwas ganz anderes gedacht.

Karoline Drum. Stille.

Schürzinger Ich habe gerade an den Zeppelin gedacht.

Stille.

Karoline Der Zeppelin, der fliegt jetzt nach Oberammergau.

Schürzinger Waren das Fräulein schon einmal in Oberammergau?

Karoline Schon dreimal.

Schürzinger Respekt!

Stille.

Karoline Aber die Oberammergauer sind auch keine Heiligen. Die Menschen sind halt überall schlechte Menschen.

Schürzinger Das darf man nicht sagen, Fräulein! Die Menschen sind weder gut noch böse. Allerdings werden sie durch unser heutiges wirtschaftliches System gezwungen, egoistischer zu sein, als sie es eigentlich wären, da sie doch schließlich vegetieren müssen. Verstehens mich?

Karoline Nein.

Schürzinger Sie werden mich schon gleich verstehen. Nehmen wir an, Sie lieben einen Mann. Und nehmen wir weiter an, dieser Mann wird nun arbeitslos. Dann läßt die Liebe nach, und zwar automatisch.

Karoline Also das glaub ich nicht!

Schürzinger Bestimmt!

Karoline Oh nein! Wenn es dem Manne schlecht geht, dann hängt das wertvolle Weib nur noch intensiver an ihm könnt ich mir schon vorstellen.

Schürzinger Ich nicht.

Stille.

Karoline Können Sie handlesen ?

Schürzinger Nein.

Karoline Was sind denn der Herr eigentlich von Beruf?

Schürzinger Raten Sie doch mal.

Karoline Feinmechaniker?

Schürzinger Nein. Zuschneider.

Karoline Also das hätt ich jetzt nicht gedacht!

Schürzinger Und warum denn nicht?

Karoline Weil ich die Zuschneider nicht mag. Alle Zuschneider bilden sich gleich soviel ein. Stille.

Schürzinger Bei mir ist das eine Ausnahme. Ich hab mich mal mit dem Schicksalsproblem beschäftigt.

Karoline Essen Sie auch gern Eis?

Schürzinger Meine einzige Leidenschaft, wie man so zu sagen pflegt.

Karoline Die einzige?

Schürzinger Ja.

Karoline Schad!

Schürzinger Wieso?

Karoline Ich meine, da fehlt Ihnen doch dann was.

5. Szene

Kasimir erscheint wieder und winkt Karoline zu sich heran, Karoline folgt ihm.

Kasimir Wer ist denn das, mit dem du dort sprichst?

Karoline Ein Bekannter von mir.

Kasimir Seit wann denn?

Karoline Schon seit lang. Wir haben uns gerade ausnahmsweise getroffen. Glaubst du mir denn das nicht?

Kasimir Warum soll ich dir das nicht glauben?

Stille.

Karoline Was willst du? Stille.

Kasimir Wie hast du das zuvor gemeint, daß wir zwei zu schwer füreinander sind? Karoline schweigt boshaft. Soll das eventuell heißen, daß wir zwei eventuell nicht zueinander passen?

Karoline Eventuell.

Kasimir Also das soll dann eventuell heißen, daß wir uns eventuell trennen sollen – und daß du mit solchen Gedanken spielst?

Karoline So frag mich doch jetzt nicht!

Kasimir Und warum nicht, wenn man fragen darf?

Karoline Weil ich jetzt verärgert bin. Und in einer solchen Stimmung kann ich dir doch nichts Gescheites sagen!

Stille.

Kasimir So. Hm. Also das wird dann schon so sein. So und nicht anders. Da gibt es keine Ausnahmen. Lächerlich.

Karoline Was redest du denn da?

Kasimir Es ist schon so.

Karolinefixiert ihn: Wie?

Stille.

Kasimir Oder ist das vielleicht nicht eigenartig, daß es dir gerade an jenem Tage auffällt, daß wir zwei eventuell nicht zueinander passen – an jenem Tage, an welchem ich abgebaut worden bin?

Stille.

Karoline Ich versteh dich nicht, Kasimir.

Kasimir Denk nur nach. Denk nur nach, Fräulein!

Stille.

Karolineplötzlich: Oh du undankbarer Mensch! Hab ich nicht immer zu dir gehalten? Weißt es denn nicht, was das für Schwierigkeiten gegeben hat mit meinen Eltern, weil ich keinen Beamten genommen hab und nicht von dir gelassen hab und immer deine Partei ergriffen hab?!

Kasimir Reg dich nur ab, Fräulein! Überleg es dir lieber, was du mir angetan hast.

Karoline Und was tust du mir an?

Kasimir Ich konstatiere eine Wahrheit. So. Und jetzt laß ich dich stehn – Ab.

zit. n. Das Gutenberg-Projekt auf spiegel.de->


1992 – Heino Ferch (Kasimir (nicht belegt)), Wiebke Frost – Erna, 1997 Josef Bierbichler – Kasimir (Dt.Schauspielhaus Hamburg. Ausz.: Gertrud Eysold-Ring)

Kommentar 1:

….Was wir schon lange mal behaupten wollten, uns aber nicht zu sagen trauten:

Wir haben länger schon das Gefühl, dass der Spielstil von hf uns in der Erzählintensität von Blicken und Gesten, Körpersprache, Gesichtsausdruck an etwas erinnert, das keiner in Betracht zu ziehen wagte. Wir fühlen uns erinnert an den Stil von alten deutschen operetten-nahen Schwarzweiss-Filmen mit jemandem aus dem Hörbiger-Clan:


Der Hofrat Geiger
mit Paul Hörbiger und Maria Andergast.

Was die beiden mit Blicken erzählen, nur mit Blicken und Körpersprache, das würde in Worte übersetzt Bände füllen. Damals hat man wegen der Zensur so gepielt. Ein Blick musste ausdrücken können, was heute eine heiße Kuss-Szene mit Very Close Ups, Schnitt-Gewitter und eingespeichelten Sound Effects sagt…aber wie sollten wir von einem Film im Wienerlied-Stil mit Schramml-Musik zu hf in unseren heutigen Produkten ziehen?

So etwas wie das obige hier, Kasimir und Karoline, scheint mir the missing link, zusammen mit Stücken wie Die Geisel (Bredan Behan) und Der Blaue Engel (Carl Zuckmayer). Hier ist Operettenhaftigkeit gegeben, hier werden tatsächlich Operetten-Evergreens gesungen, und Stücke aus den Zwanzigern. Da wird auch Akkordeon / Schifferklavier gespielt. Da gibt´s (Schnaps-, Bier- und) Weinseligkeit.

Hier in Kasimir und Karoline sind im Libretto die Musikstücke sogar angegeben, die gespielt werden sollen: 1. Akt: Intro: Solang der Alte Peter

(..Solang stirbt die Gemütlichkeit

bei de Münchner niemals aus,), ist ursprünglich ein WIENER LIED (!)

Und:

Die Glühwürmchen-Suite aus der Operette Lysistrata von Paul Lincke.

Da könnte also doch schon mal der eine oder andere Blick Richtung Hofrat Geiger riskiert worden sein. Und: Heute, in Krupp, spielt doch tatsächlich wieder jemand mit aus dem Hörbiger-Clan: Mavie. Und gesungen wurde auch im operetten-Stil. Auf der Waldbühne. Mit dem Palastorchester. Im Frack.

…und nochmal zurück zur Krupp-Ikonografie: Was sehen unsere erstaunten Augen? Krupp in den zwanziger Jahren  (20.Jh.) und, tatsächlich:

Bildquelle und Bildrechte bei MOOVIE – the art of entertainment für ZDF.de 2009 Standfoto aus: Krupp – eine Deutsche Familie

ein ZEPPELIN! Da fliegt er! Da oben, ganz dicht über den Dächern..wie, wie, wie in Kasimir und Karoline.

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