Evolutionäre Ästhetik und Architektur: Farbe. Teil 2

bunte Balkone  -  Depot Areal Tübingen - in / explore-2013-11-15,  #500 and out

Aufgrund der völligen Abwesenheit von linearen Vertikalen ohne Gliederung in Abschnitte und der Abwesenheit von linearen Horizontalen ohne Gliederung, Markierung oder Unterbrechung an Objekten in der Natur ist die evolutionsbedingte (wahrnehmungspsychologische) Antwort des Menschen auf Gebäude, deren Äußeres ausschließlich von linearen Vertikalen und Horizontalen bestimmt ist,  (wie bei modernen Hochhäusern üblich), dann negativ, wenn der Mensch sich in der Realität (vor dem Gebäude stehend) in Bezug zu diesem Objekt setzt.

Hinzu kommt die abundante Verwendung von Glasscheiben an der Außenfassade, die an vielen Gebäuden geradezu als „Glashaut“ das Gebäude gänzlich umgibt.

In der Natur fehlen glänzende glatte Flächen in vertikaler Position, die einzigen glänzenden glatten Flächen, die die evolutionär bedingte evolutionsästhetische „Grundausstattung“ des Menschen zu bieten hat, ist die „Erinnerung“ an horizontale glatte glänzende Flächen: die Oberflächen von Seen, Weihern, Tümpeln oder Pfützen.

Für beide Gestaltungselemente befinden sich im menschlichen evolutionsästhetisch bedingten Formenarchiv der kollektiven „Erinnerung“ für große, sehr große Objekte (immer in der realen Außenwelt, wenn sich der Mensch persönlich dem Objekt „Hochhaus“ nähert und sich so zu ihm in direkte Beziehung setzt) keine „wieder erkennbaren“  nachvollziehbaren Vergleichsformen, also Formen, die strukturell emotional wahrnehmungspsychologisch ein  Wiedererkennen auslösen würden. Kongruenz zwischen evolutionsästhetisch bedingter „Grundausstattung“ und vorhandenem Objekt ist nicht herstellbar: das Objekt erscheint als „fremd“ und damit „befremdlich“.

Folge:

Der Anblick von modernen Hochhäusern im Straßenbild, befindet man sich selbst in dieser Straße, erzeugt im besten Falle Befremden, im worst case bewirkt der Anblick dieser Gebäude emotional negative Gefühle, wie z.B. sich abgestoßen fühlen.

Eine geradezu erstaunliche Wendung tritt ein, befinden sich an diesen „schachtelförmigen“ Gebäuden, d.i. im Verglich zur Größe des Menschen, der davor steht, riesigen Objekten, farbige Paneele oder Farbfelder, die die Fassade in einzelne, geordnet variierende verschiedene farbige Felder visuell aufteilen.

Vom evolutionsästhetischen Gesichtspunkt her betrachtet, rufen Farbfelder an Objekten wahrnehmungspsychologisch grundsätzlich, also normiert, die Identifizierung „blüht“ „Blüten“ auf.

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In der Folge werden mit bunten Farbfeldern gestaltete rechteckige Gebäude, wie z.B. Lagerhallen oder Fabrikhallen, oder Plattenbauten trotz evolutionsästhetisch betrachtet „unbekannter“ Form, plötzlich nicht nur nicht mehr als befremdlich, abstoßend, unangenehme Gefühle vermittelnd erlebt, sondern ganz im Gegensatz dazu als „schön„.

https://www.pitopia.de/scripts/pictures/detail.php?pid=652847

Wie kommt dieser Effekt zu Stande?

Grundsätzlich ist es unerheblich, ob visuell ein Objekt, das kleiner ist als der Mensch, z.B. ein Strauß bunter Blumen, direkt vor den eigenen Augen befindlich erfasst wird, also nah, oder ob ein großes Objekt wie ein Gebäude, ein buntfarbenes Gebäude, in größerer Entfernung, also weit weg, visuell erfasst wird.

In beiden Fällen füllen die Buntfarben ähnlich große Gesamtanteile im Sehfeld aus. Dies genügt zur Bildung der Assoziation „Blumen“ und weiter: Blumen bedeuten evolutionsästhetisch interpretiert: Sommer, warm, Leben, das Gegenteil von  – vor der Erfindung von effizienten Heiztechniken im 19. Jh. – kalt, Winter, lebensbedrohend.

Die Gegenprobe funktioniert mit Betonbauten, deren Außenwände nicht durch zusätzliche „Verkleidungs-/Bekleidungsmaßnahmen“ verhüllt, „bekleidet“ sind, sondern – wie auch umgangssprachlich in Gebrauch – nackt.

https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Wotrubakirche_1.jpg

Der Sichtbeton wird als „nackten Betonbau“ bezeichnet.

Die Farbe von Beton ist grau. In der Natur indiziert die Farbe Grau den Lebenszustand des Absterbens, des Verwesens, auch Lichtsituationen in kalten Jahreszeiten, also in durch Kälte das menschliche Leben bedrohenden Zeiten.

Evolutionsästhetisch betrachtet triggert die Farbe Grau an glatten, unstrukturierten Betonwänden (die Bedeutung von Struktur an vertikalen Wänden a.a.O.) die kollektive „Erinnerung“ an den Seinszustand des Absterbens – emotional ruft dieser Trigger also latent unangenehme Gefühle hervor, die mit den evolutionsbiologisch „gespeicherten“ Konnotationen der oben genannten Naturphänomene korrelieren.

Nackt- Bekleidet:

Mit – bedingter – Ausnahme von Backsteinbauten, die durch lebhafte Musterung mittels verschiedenfarbiger Backsteine den Eindruck der Nacktheit der Außenwände vermeiden , waren alle Gebäude, beginnend bei den 6000 Jahre alten Pyramiden des alten Ägypten bis zu den Stuckfassaden des 19. und frühen 20. Jh.s immer verkleidet, bekleidet.

Die Bekleidung der Fassade sorgte für Strukturierung, Verlebendigung durch Farbe und Ornamentik, insbesondere durch florale Ornamentik.

Das große Objekt „Haus“ wurde mit Strukturmerkmalen versehen, die der Mensch evolutionsästhetisch aus der Übersetzung von Strukturen der Naturumgebung in gebaute und gestaltete artifizierte Umgebung, Häuser, Stadt, übersetzte und so, in verwandelter Form, die Natur, die evolutionsästhetisch in Jahrhunderttausenden seine normierte Matrix von „schön“ und „hässlich“ verbindlich erzeugt hatte, in die artifizieret Umgebung „Stadt“ mitnehmen konnte.

Erst mit der Architektur des Dritten Reiches und gleichzeitig mit der Architektur des Bauhauses, deren ästhetische Maximen bis heute unverrückt Geltung haben, wurde die Transposition von Strukturen der Naturumgebung in die artifizierte Umgebung „Stadt“ vergessen.

Rechtwinklige variantenfreie vertikale Rapporte, die zunehmende Hinwendung zu harten Weiß-Schwarzkontrasten („Winter, Tod“) , die Bevorzugung von Strukturen, die den Menschen, der sich vor dem Objekt „Gebäude “ befindet, abweist, nicht wahrnimmt, keinen Bezug aufbaut, zeigen mit zunehmender Masse derartiger Gebäude, Straßenzug und Straßenzug (Beispiel Marsstraße München) die eigenartige Tendenz, daß Gebäude der artifizierten Umgebung „Stadt“ den Menschen nicht mehr als zentral wichtige Entität wahrnehmen, sondern „links liegen lassen“
oder durch schlitzartige Gestaltung der Erdgeschosse mit horizontal weit überkragenden Plafonds der darüber liegenden Gebäudemasse wahnehmungspsychologisch bedrücken,

https://www.golocal.de/muenchen/kaufhaeuser/galeria-karstadt-kaufhof-muenchen-am-marienplatz-2W7x7/fotos/
ja, durch nicht intuitiv erkennbare stützende Elemente durch möglichen Einsturz wegen scheinbarer Instabilität des Konstrukts zu bedrohen scheinen – denn die Erfindung des Stahlbetons, der solch weit überkragende Gebäudeteile ohne sichtbare Stützen (Allusion. Bäume, Baumstämme, Stützen) ermöglicht, ist evolutionsästhetisch noch lange nicht Vokabular des Menschen und wird es vielleicht nie werden.

Gleichzeitig mit der völligen Abschaffung jeder evolutionsästhetisch bedingten Struktur, die Natur in Architektur übersetzt, ist ein Phänomen zu beobachten, das ebenfalls mit der Nichtwahrnehmung von Natur zu tun hat.

Die Umweltverschmutzung, der industrielle Umgang mit der Natur und der Fauna, die in der industriellen Massentierhaltung die Tatsache in den Hintergrund drängt, daß es sich bei Fauna um Lebewesen handelt. Bis zum dialektischen Umschlagspunkt in der Architektur von naturparallelen Strukturen zu Strukturen, die sich von der Beziehung zur Natur völlig losgesagt haben, war die Idee noch virulent, daß Fauna zwei Aspekte hat: den der Nutzung und den der Verantwortung des Menschen für die Nutztiere.

Parallel  mit o.g. Phänomenen wandelte sich die soziale Marktwirtschaft (Nutzen plus Verantwortung)  der Nachkriegszeit zu einer neoliberalen Marktwirtschaft (Nutzenmaximierung), mit ungleicher Ponderierung von Nutzen und Verantwortung zum Nachteil des Aspekts der Verantwortung für das Anvertraute, Mensch, Natur, Flora oder Fauna.

 

Andrea-Maria Glaser M.A. München, den 6. November 2019

 

 

 

 

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