Evolutionäre Ästhetik und Architektur: die Gotische Kathedrale. Teil 2

Munster-StrassburgerOtto von Simson: Die gotische Kathedrale, S. 56:

„Wir können diese überaus wichtige Verbindung nicht verstehen, wenn wir die Kathedrale ein Abbild oder Symbol des Kosmos nenne, denn der Ausdruck „Symbol“ ist heute zu verschwommen; als ein Versuch , die Struktur des Universums nachzubilden, nicht unähnlich den großen naturwissenschaftlichen Experimenten unsers Jahrhunderts, muss die Kathedrale vielmehr aufgefasst werden, als ein „Modell“ des mittelalterlichen Universums.“

Kommentar:

Abbild des Universums, Symbol des Universums: die Kategorien, die für den mittelalterlichen Menschen das Wort „Universum“  mit Bedeutung füllen, sind andere, als unsere heutige nach- Newton´sche Auffassung nahelegt

Es ist anzunehmen, dass der Zeitgenosse des 11. Jh.´s Universum als das betrachtete, was er unmittelbar sinnlich erfassen konnte: Wachsen, Knospen, Blühen, Reifen, Absterben, Tod, neues Wachsen: eine Kategorie, deren Ausformungen, deren Erscheinungsweisen die Kategorie der Zeit, des Zeitflusses beinhalten.

Die Welt, das mittelalterliche Universum, war weniger räumlich als vielmehr nach der Kategorie des Zeitlichen definiert.

Das heisst: stellt die Gotische Kathedrale vornehmlich das Wachsen pflanzlicher Gebilde dar, so ist dies ein Symbol für die Hauptkategorie des mittelalterlichen Universumsbegriffes. Dem Verfliessen von Zeit.

Da die Ornamentik der gotischen Kathedrale eine ganz bestimmte Phase im Wachstum der Pflanzen, die sie ornamental abbildet, zumindest im Aussenbau, ausschließlich bevorzugt, nämlich das Sprossen und Knospen, das Erblühen (Kreuzblume) bezeichnet die Form genauer die emotionale Aussage, die der Kirchenbau macht. Die Hoffnung auf Ernte.  – christlich übersetzt: die Heilshoffnung.

Alle anderen Kategorien, die aus den Schriften des Augustinus, der Cluniazenser, der Platoniker, der Scholastki, erkannt oder benannt wurden , sind nichts anderes als Hilfskategorien in Bezug auf die ikonologische Interpretation: das Ebenmass der Geometrie, das Ebenmass der musikalischen Beziehungen – sie helfen beim Umsetzen der zu Grunde liegenden Idee in gebaute Architektur.

Diese Kategorien als Begründung für die letztendliche Form gotischer Kathedralen zu betrachten , bleibt unbefriedigend.

Zwischen der Bedeutungskategorie der Geometrie und finaler Ausformung des gebaute Gebäudes fehlt eine geistige Idee, der „missing link“ ist die Idee des Wachsens, ausgedrückt durch das Gebäude, das im Ganzen , in allen Teilen und im Detail nichts anders ausdrückt, als ein geordnetes Konglomerat von wachsenden Pflanzen.

Konglomerat soll hier die Tatsache beschreiben, das in der gotischen Kathedrale keine konkreten Pflanzen,  botanisch sofort bestimmbar, vordergründig zur Darstellung  kommen (natürliche sind konkrete Pflanzen, bzw ihre „architektonische“ Ausbildung und Ausformung ihrer Einzelteile Vorbild, aber in der Abbildung in der gotischen Kathedrale nicht in den Vordergrund gerückt), sondern ihre Qualität des Wachsens, Sprossens und Erblühens als reale Korrelat zur geistigen Idee, der Idee, dass die Kategorie des Wachsens ausgewählt wurde zur Beschreibung des Universums im Sinne des mittelalterlichen Menschen.
v. Simson: „Die Schöpfung [das Universum] galt als die erste der Selbstoffenbarungen Gottes.“

Grundsätzlich handelt es sich bei der gotischen Kathedrale um ein Gebäude.

Ablälard, und nicht nur er, beschreibt das Gotteshaus als „Himmliches Jerusalem „ oder als „Tempel Salomons

„Wie bereits erwähnt, betrachtet man den Tempel als Prototyp des christlichen Kultbaus; als solcher wird der oft in mittelalterlichen Texten erwähnt“ (v. Simson, ebd. S. 60)

Grundsätzlich enthählt auch die Gotische Kathedrale in ihren architektonischen Teilelementen immer noch sichtbar die Elemente des römisch-antiken Vorbildes: Eingang mit Vorhalle, Langhaus, Eindeckung durch Gewölbe halbkreisförmige Gestaltung des wichtigsten , heiligsten Ortes im Gebäude: Presbyterium und Altarzone. Die zusätzliche, die Neuinterpretation des 11. Und 12. Jahrhunderts ist die oben beschriebene.

Andrea-Maria Glaser M.A.  05.Nov. 2019

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