Evolutionäre Ästhetik und Architektur: Relation Vertikale – Horizontale

Wir folgen grundsätzlich der Theorie nach Noam Chomsky zum Spracherwerb, (Chomsky: Language and Mind) transponiert auf das Theorem eines cognitiv-visuell biologisch evolutionär bedingten ästhetischen „Grundvokabulars“, das der Mensch in Jahrhunderttausenden des Lebens vor allem in einer von Wald, das heißt, von Bäumen strukturierten Naturumgebung erworben hat.

Wir gehen davon aus, dass dieser Grundwortschatz Strukturen beinhaltet, die durch die Umgebung „Wald“ bestimmt sind, in der Foolge konnotiert mit positiven oder negativen Bedeutungen für das menschliche Leben/Überleben.

Beispiel: helle warme Farben,  dominiert von der Farbe grün: Konnotation erste Ebene: Sommer, Konnotation zweiter Ebene: günstig für das Überleben, Konnotation dritter Ebene: „gut“ oder – visuell ästhetisch gesehen – „schön“.

Beispiel 2: Baum wächst achsensymmetrisch und gerade: Konnotation erster Ebene: ist gesund, Konnotation zweiter Ebene: gesund ist gut, Konnotation dritter Ebene: Baum, also: Objekt, ist schön.

Die einzigen übermannsgroßen Objekte, welchen der Mensch in seiner evolutionären Entwicklung Jahrtausende lang begegnete, waren Bäume.

Bäume sind in ganz bestimmter Weise strukturiert, eine ganze Gruppe von Bäumen zeigt Elemente der Strukturierung, die auch Häuserfassaden zeigen: Lärchen, Tannen, Fichten, zeigen eine gerade Mittelachse, den Stamm und stockwerksweise übereinandergeordnete Seitenelemente, die Äste, die Silhouette ist spitz zulaufend.

Ein simpler Vergleich zum Beispiel mit einer Renaissance-Fassade (Hier St. Michael München Neuhauser Strasse) zeigt unmittelbar augenfällig gleiche Strukturen: Mittelachse, Stockwerke, spitz zulaufender Giebel (wie beim Baumwipfel).

Grundsätzlich zeigen achsensymmetrische Bäume, meist Nadelbäume, eine ganz bestimmte Relation von Vertikalen und Horizontalen.

Diese Relation ist immer und überall an gesunden Bäumen dieselbe: die Vertikalen und Horizontalen, vertikale und horizontale (oder der Horizontale angenäherte Elemente, die Seitenäste) Elemente, stehen IMMER in einem ausgewogenen Verhältnis zueinander. Weder die Vertikale noch die Horizontale dominiert unwidersprochen das gesamte Objekt „Baum“.

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Fassaden, wie die obige Renaissancefassade, alludieren in ihrer strukturelle Aufteilung mittels Fassadenornamentik (Pilaster, Gefache, Gesimse, Kragsteine, Voluten, hier: helles Strukturnetz auf dunklerem Grund in zweistufiger Tiefen-Schichtung) auf diese Ausgewogenheit von Vertikalen und Horizontalen. Evolutionsästhetisch betrachtet ruft diese Strukturierung den emotionalen Respons von „harmonisch“ „angenehm“ hervor.

Der ästhetische Bruch, der mit der Nach-Bauhaus-Architektur auf die Übernahme und Interpretation von Strukturen aus der Natur verzichtet, hatte zur Folge, dass Restauratoren die oben beschriebenen Grundsätzlichkeiten struktureller Art aus den Augen verloren.

Sehr häufig bewirkt die farbliche Monochromisierung von Fassaden, die Strukturelemente durchgängig in derselben Farbe fassen wie den Hintergrund, wie die aufgehende Wand – und so eine Mimese, ein Verschwinden der strukturierenden Ornament-Elemente erzeugen,- eine Fehlponderierung von Vertikale und Horizontale an historischen Fassaden, die diese Ponderierung ursprünglich noch evolutionsästhetisch gesehen korrekt, also ähnlich wie bei Bäumen strukturiert, angelegt hatten.

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Die Fassade von St. Michael Neuhauser Strasse München wurde in 2018 ihrer zweifarbigen Strukturierung beraubt – helle Pilaster , Lisenen und Gesimse rahmten dunklere, graufarbene Wandgefache und sorgten so für eine ausgewogene Strukturierung von Vertikalen und Horizontalen, die visuell den Aufbau der Fassade in Stockwerke sichtbar machten.

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Die Fassade wurde völlig weiss gestrichen, die vertikal verzahnenden Strukturelemente (Pilaster als visuell die horizontalen Gesimse tragenden Elemente) verschwanden durch Angleichung der Farbe von Ornament und Grund und so entstand der Eindruck von unverbunden übereinander schwebenden Stockwerken, getrennt durch hart in der Farbigkeit abfallenden schweren  horizontalen Gesimsen. Der Eindruck von fehlender Ponderierung – ein Gefühl, das evolutionsästhetisch aus dem Grundwortschatz „Strukturvorbild Baum“ kommt – entsteht.

Die Vertikalen, d.i. die visuell „tragenden“ Elemente des Konstruktes sind quasi „verschwunden“. Der Rest „schwebt“ – was in der Natur nicht vorkommt.

Fenster und dunkel gefasste Nischen erscheinen nunmehr als dunkle /schwarze „Löcher“ (zum Eindruck „Loch“ siehe a.a.O.)

Ein zweites Beispiel, durchgängig durch Restaurierungen in Kirchen in Bayerin des 17. und 18. Jahrhunderts durchgeführt wird, ist das „Runterweisseln“ (alpinweiss streichen) der visuell das Gewölbe tragenden und das Langhaus rhythmisch wie eine Baumallee strukturierenden Wandvorlagen.

Die tatsächlich oder nur visuell tragenden Wandvorlagen haben ihr Vorbild in den Stämmen von Bäumen (siehe hierzu Kapitel. die Gotische Kathedrale), in der Romanik voluminöse Langhauspfeiler, in der Gotik Bündelpfeiler oder Rundpfeiler, im Barock häufig Säulen, im 18. Jh verzierlicht, verfeinert, zu Wandvorlagen, kannelierten Pilastern.

Die evolutionsästhetisch betrachtet selbstverständliche tatsächliche oder auch nur visuell dargestellte tragende Funktion von Pfeilern, Säulen oder Pilastern ist ein essenzielles Gestaltungsmerkmal aller Langhaus-Kirchen über 1000 Jahre hinweg, ihre evolutionsästhetische Funktion als stützende und tragende Elemente völlig unbestritten.

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Die Gestalter von Kircheninnenräumen wie in Fürstenfeldbruck und in Günzburg/Do. erinnerten sich – selbstverständlich – noch an dieses evolutionsästhetisch betrachtet notwendige „Must“ für Pfeiler, Säulern und Pilaster.

Visuell verzahnen die farbig gefassen aufgehenden – scheinbar tragenden – Wandelemente die Boden- und die Deckenzone, zusätzlich strukturieren sie wie Bäume einer Allee die Vielzahl der multiformen Ornamentik. Zum Vergleich noch einmal ein Waldstück:

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Die Baumstämme bilden evolutionsästhetisch das Vorbild für die Säulen, das Blattwerk das Vorbild für die florale Ornamentik.

Visuell verbinden die Baumstämme die Erdzone mit der Himmelszone, wir blicken vom Boden über die Stämme nach oben in die äthrale Zone.

Moderne Restauratoren richten sich oft nicht mehr nach dieser unverrückbaren Grundsätzlichkeit, die darin besteht, dass vergangene Generationen von Architekten und Ausstattern selbstverständlich sich an das strukturelle System des Naturvorbildes anlehnten.

Für die definitive Ausformung gibt es, je nach Stil und Jahrhundert oder Ort, tausende, wahrscheinlich Millionen von Möglichkeiten, im Kern enthalten sie das evolutionsästhetisch gewachsene Grundvokabular.

Das folgende Beispiel zeigt eine Ausformung, die die visuell-ästhetische Funktion von baumähnlichen Strukturen (Säulen, Pilaster) vergessen hat.

Die Wandvorlagen wurden mit dem Hintergrund mimetisch durch weisse Monochromie verbunden und mussten deshalb ihre visuell strukturierende Funktion aufgeben. Das Ergebnis: die Ornamentik „hängt“ unverbunden und für das Auge „wirr“ , unentschlüsselbar „in der Luft“, der Langhauswand fehlen visuell deutlich wahrnehmbar die rhytmisierenden, Unten und Oben strukturierend verbindenden Elemente: die Vertikalen.

Ergebnis: der Eindruck von unentzifferbarer Überladenheit entsteht, den viele Zeitgenossen ablehnen. Darüber hinaus ist der logische Verbund von Pilasterbasis, Pilaterschaft und Kapitell visuell nicht mehr vorhanden, dem Auge wird keine strukturierende „Hilfestellung“ geboten.

Die ausgewogene Ponderierung von Vertikalen und Horizontalen ist gekippt – durch coloristische Restaurierungsmassnahmen einer Generation, die das Naturvorbild als Vorbild für architektonische Strukturen vergessen hat oder vergessen wollte und so keinen verstehenden Zugang mehr hat zum ikonologischen Hintergrund, zur ikonographischen Basis der Ornamentik.

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Regensburg;  Dom Freising, Langhaus.

 

Andrea – Maria Glaser M.A. , München, den 12. November 2019

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