Evolutionäre Ästhetik und Architektur: Die gotische Kathedrale

223007269_4Evolutionäre Ästhetik

Formen der Natur:

Zentralthemen sind Wachsen, Leben und Absterben.

Beispiel: die gotische Kathedrale, ein großes Pflanzengebilde

Die Form der gotischen Kathedrale alludiert auf ein wachsendes Gebilde, das an allen wichtigen Stellen, oben, außen knospt.

Das knospen der architekturellen Formen macht das reine Nutzgebäude, die tragenden architektonischen Formen,  zu Trägern von Knospen und Sprossen.Die Architektur alludiert ein lebendes wachsendes Gebinde von nach oben zum Licht wachsenden Pflanzen.

Kirche Außen: alle Formen sind so gewählt, dass sie den Ausdruck des von unten nach oben wachsen zeigen, alle Formen zeigen oben, dort wo bei der Pflanze der Spross ist: Sprossen, Knospen und ganz oben, dort wo bei der Pflanze die Blüte ist: Blüten.

Die gesamte gotische Kathedrale alludiert ein wachsendes Gebilde, alle Teile, Pfeiler, Pilaster, Wandgliederungen, Fialen, Wimperge, die Ornamentik der Fenster zeigen: wachsende Stengel, die am oberen Ende Knospen und Sprossen. Die Fenster zeigen Blütenformen, die bunten Farben der Fenster erwirken unmittelbar den Eindruck von bunten Farben, die durch Blüten, durch einen Blütenteppich, entstehen.

Eigentlich könnte man denken, die Kathedrale wird  Frühling für Frühling, Sommer für Sommer, immer weiter wachsen. Wenn man  in 10 Jahren wiederkommt, wird sie zehn mal so groß sein, nämlich: weiter gewachsen.

Die von Panofsky erkannte „Diaphanie“ ist die Diaphanie von Pflanzenkonglomeraten, von Wäldern, zwischen den Stängeln und Bäumen bricht das Licht hindurch, auf genau diese Asthetik alludiert die Diaphanie der gotischen Kathedrale (Aussenbau).

Immens wichtig ist hierbei auch die Größenrelation des Ganzen und des Details zur Größe des Menschen. Obwohl das ganze Kirchengebäude groß, vor allem jedoch hoch, ist, ist die Größe der Ornamente auf – visuell wahrnehmungspsychologisch gesehen – die Größe der Form bezogen, die die gesamte Natur quasi als Normgröße bestimmt: die Größe eines Blattes eines Baumes.

Hundertfach, tausendfach wiederholt, ergeben sich größere Form-/Ornamentzusammenhänge, extrem wichtig hierbei ist die Varianz: als angenehm empfindet der Mensch, dessen ästhetische Emfindung evolutionär geschult ist, Wiederholungen kleiner Einheiten, die sich in der Grundform ähneln, jedoch in Varianz eingesetzt sind: sehr häufig finden wir die Rhythmisierung A BB A C A BB A.

Diese Rhythmisierung, zusammen eingesetzt mit Symmetrie, löst ästhetisches Wohlgefühl aus. Im letzten hat dieses Wohlgefühl m.E. seine Begründung in der Interpretation des Subjekts als lebend, gesund, wachsend, oder welkend, krank, tot. Alle lebenden Objekte der Flora bezeugen ihren guten Gesundheitszustand durch Symmetrie in leichter Varianz.

Innenbau: die Schiffe mit ihren Bündelpfeilern alludieren auf Baumalleen, die Kreuzgrat- später Fächer- und Schlingengewölbe alludieren auf die Äste dieser Bäume, deshalb beginnen alle Dienste auch am Boden, es sind Stengel von Pflanzen, die über unseren Köpfen ein Astgewirr, ästhetisch durch geregelte Ornamentierung interpretiert.

Originale farbige Fassungen von gotischen Kathedralen zeigen die finale Auflösung, die letztendliche Bestätigung dieses Gedankens des Wachsenden:

in die Fächer der Kreuzgrate sind – wieder durch ornamentierte Ordnung – die Blätter und Ästlein dieser Kreuzrippen dazugemalt. Die Kreuzrippe stellt die Äste der Bäume dar, die von den Pfeilern inkorporiert werden.

Vorbild der Natur: Blickt man im Wald , in der Allee, diagonal zwischen Bäumen durch, so bewirkt die Überschneidung von Ästen an Bäumen, die diagonal hintereinander stehen, den Eindruck der Form, die die Gotik prägt: visuell vereinigen sich zwei Äste benachbarter Bäume zu Spitzbogenformen, optisch ist ein Spitzbogen zu sehen, sind Spitzbögen zu sehen, die sich aus den zusammengesehenen Formen auskragender Äste benachbarter Bäume als gemeinsame Silhouette einer Form, gebildet aus benachbarten Ästen, bilden.

In den Nebenschiffen in spätgotischen Kathedralen oder in Nebenkapellen wird der Gedanke, dass die Rippen der Gewölbe Äste , ornamentiert ästhetisierte Äste sind, Übersetzungen von Baumästen in architektonisch-ornamentale Sprache, bis zum letzten Worte ausgesprochen:

die Rippen werden oft so dargestellt, als wären es Äste, die Knospen und Sprossen entwickeln, ja die Erbauer gehen sogar so weit, dass aus dem Rippengewölbe in einer zweiten frei im Raum schwebenden Schicht Äste aus den Ästen des Rippengewölbes herauswachsen, sich verschlingen, Knospen bilden und in den Mitte eine schwere große Blüte entwickeln, die frei im Raume steht. Andere Stengel, die aus dem Wuchsknoten erwachsen, wachsen aus frei in die Luft gesetzten Wuchsknoten, so als wäre es dem Zeitgenossen eine Selbstverständlichkeit, dass Äste nur aus Wuchsknoten entspringen können, die Erde wird „mitgedacht“, aber nicht dargestellt.

An keiner Stelle einer gotischen Kathedrale gibt es pflanzliche Ornamentik, die ein „Hängen“ ein „Herabhängen“ inkorporiert.

Pflanzen oder Pflanzenteile, die hängen, bedeuten in der Überzahl aller Fälle: die Pflanze welkt, sie ist dabei, zu sterben.

Die Aussage der gotischen Kathedrale ist das genaue Gegenteil: jedes architektonische Glied alludiert auf wachsende Pflanzen, Pflanzenteile, Stengel, die Knospe deutet auf das Kommen der Blüte, all das deutet auf Zeit, auf das Vergehen von Zeit in einem Zustande der Erwartung des erwartungsvollen Hoffens und der Vorfreude auf die Blüte.

Die knospenden Formen des Kathedralgebäudes, das eine Pflanzenschule, eine Gruppierung von Pflanzen alludiert, bedeutet in seinem Wachsen übersetzt in eine menschliche Emotion nichts anderes als: Freude und Hoffnung.

Die Formen der Kathedrale wurden vielfach von bedeutenden Kunsthistorikern -allen voran Erwin Panofsky -und Architekturhistorikern besprochen. Die Ikonologische Interpretation der gotischen Kathedrale als Gebilde, als Gesamtgebilde, blieb immer ein schwarzes Loch, ein unerfülltes Desiderat.

Die Kunst- und Architekturhistoriker warfen sich auf die Erklärung der Statik der gotischen Kirchen, auf das Phänomen des Lichteinlasses durch die großen Fenster, – keiner, kein einziger Historiker legte eine ikonologische Interpretation der Gesamtform der gotischen Kathedrale vor. Die Höhe der Kirchen wurde generisch mit architektonischer Ausdruck des „Strebens nach Gott“ erklärt – all das genügt bei Weitem nicht, die dezidiert sprechenden Formen der gotischen Kirche ikonologisch zu deuten.

Die Deutung, alle Formen der gotischen Kirche alludieren wachsende Pflanzen, die ganze Kirche , besonders ihr Turm, ist eine große Pflanze, das Sinnbild einer großen Pflanze , deren wichtigste Eigenschaft die Eigenschaft des Wachsens ist, wurde völlig übersehen , vernachlässigt, nicht erkannt.

Bereits die Wahrnehmung, die Innengliederung der gotischen Kirche bestehe aus Wänden, ist falsch. Die gesamte Kirche, alle tragenden Teile, bestehen aus Stengel-Baumartigen Strukturen, durchgängig alle. Die Namensgebung für die Fenster als Glas-„Flächen“ führt ebenfalls in die Irre. Die Fenster erscheinen weder als „Flächen“ noch als „Glas“, ihre Erscheinungsweise ist eine ganz andere. Im sakral wirksamen Halb- bis Dreivierteldunkel des gotischen Kirchenraumes sind die Buntfenster leuchtende Erscheinungen aus tausend bunten Farben, ähnlich den bunten Blättern in Herbst, die durch das Sonnenlicht zum Leuchten gebracht sind. Die Fenster wirken wie große leuchtende „Ereignisse“, insubstantiell, für den mittelalterlichen Menschen zweifellos wie ein Wunder. Für uns heutige Menschen steht der Vergleich der Werbe-Leuchttafel natürlich nahe. Beide Objekte verneinen ihre Substantialität als Tafel und ziehen die Aufmerksamkeit des Betrachters auf den Effekt der leuchtenden bunten Farben.

Die Wachsende Pflanze ist für den mittelalterlichen Menschen, der in der Natur lebt, von Natur umgeben ist – die Stadtbevölkerung war nur ein winziger Bruchteil der Bevölkerung – das einzige brauchbare, unmittelbar verständliche Sinnbild, um einem wichtigen Gedanken Ausdruck verleihen zu können:

dem Gedanken der Hoffnung.

Die Pflanze, die knospt, ist Sinnbild für den Gedanken, dass in einem absehbaren Zeitabschnitt aus der Knospe die Blüte und aus der Blüte die Frucht wird. Die Frucht ist Nahrung.

Die Gotische Kathedrale, deren Ornamentik der Architektur die Aussage des knospenden, des blühenden geordneten Pflanzenkonglomerates gibt, zeigt dem Gläubigen ein lebendiges, ein lebendes Gebäude, das bald Früchte tragen wird.

Nicht nur der Gedanke des Abt Suger von St. Denis, dass Materie, je lichtdurchlässiger, desto mehr und deutlicher die Nähe zum göttlichen Licht , zum Göttlichen selbst, inkorporiert, ist für die Gotische Kathedrale von größter Bedeutung, sondern vor allem die architektonischen Formen und Ornamente, die Wald, Wachsen, Knospen und Blühen als Sinnbilder der Hoffung auf baldige Ernte darstellen, ist ikonologisch die Antwort auf die Frage: was bedeuten die Formen der gotischen Kirche, warum wurden gerade diese gewählt?

Der Mensch lebte Jahrmillionen in Wäldern, es ist überaus naheliegend, dass die evolutionäre Ästhetik in der cognitiven Wahrnehmung des Menschen den Wald mit seinen Baumstämmen und dem Blätterdach darüber als idealen Ort des Seins, des Beschützt-Seins empfunden wird. Bäume waren heilig, ihre Ansammlungen oft Orte der Anbetung. Es ist geradezu von zwingender Logik, dass ein Gebäude, das der Anbetung des Göttlichen dienen soll, diesen Ort – in Stein gebaut – erstehen läßt: die gotische Kathedrale.

Wie konnte es dazu kommen, dass die wichtigen Bestandteile der gotischen Architektur, die Krabben (Knospen) , jungen Blätter (an den Fialen) , die Blumenornamente an den Balustraden und in den Fenstern, die Kreuzblumen, die Wandfüllungen mit Stengelartigen Ornamenten mit ihren in regelmäßigen Abständen den Stengel teilenden Wuchsknoten in der Kunstgeschichte als nebensächliche Accessoirs quasi unbeachtet, sicher jedoch mit extrem nachgeordneter Wichtigkeit als Nebensächlichkeiten interpretatorisch völlig vernachlässigt werden konnten?

Es gibt sogenannte „versachlichte“ Nachbauten von gotischen Kathedralen, die auf diese florale Ornamentik verzichten, ihr Erscheinungsbild kann quasi als Gegenprobe die These des „lebenden Gebäudes“ verifizieren: die ornamentfreien gotisierenden Kirchen, die also quasi nur die architektonischen Träger der Knospen, Blätter und Blüten (-ornamentik) zeigen, haben für den Betrachter eine geradezu überraschend deutliche Aussage, ihre architektonischen Formen betreffend: die Gebäude wirken: tot.

Wie kann das sein? Die evolutionäre Ästhetik des Menschen, der vor der Bildung großer Städte Jahrmillionen in Wäldern aufwuchs und lebte, kategorisiert offensichtlich spontan und unbewußt in: lebend oder tot, wachsend oder welkend. Auch Objekte wie Gebäude werden in diese Kategorisierung ästhetisch spontan einbezogen. Zeit wird vom biologisch determinierten Menschen offensichtlich instinktiv über Wachsen und Werden, über Welken und Absterben gemessen.

Dazu kommt, dass die Kunstgeschichte der letzten 100 Jahre immer stärker ästhetische Äußerungen des Menschen in verschiedene Bereiche kategorisiert hat, welchen er verschieden hierarchisch bewertete Stellungen im Gesamtgebilde „Kunst“ zugeordnet hat. Architektur, Skulptur, Malerei – und als letztes, im Nachgang zum Historismus geradezu Verhasstes: die Ornamentik.

Mit kategorisierenden Blickweisen auf künstlerische Äußerungen vergangener Jahrhunderte und Jahrtausende kann – und hier folge ich dem klaren Blick auf Kultur und Kulturen von Ruth Benedict (Urformen der Kultur, Schwert und Chrysanteme) KANN unmöglich eine ikonologisch dem Objekt gerechte Interpretation vorgelegt werden. Der kategorisierende Blick ist sozusagen der „Messfehler“ in der Versuchsanordnung.

Nötig ist der naive, der unvoreingenommene, der Blick des Kindes. Was sehe ich da? Außen ein Gebäude, das knospt, wächst und blüht, innen ein Wald aus steinernen hohen Bäumen und überall die leuchtend bunten Farben von Blüten, durch die die Sonne scheint.

 

Auffällig indirekt und weit vom Offensichtlichen, vom direkt und unmittelbar vorhandenen, sichtbaren Formenkanon in den Interpretationen abweichend sind die Versuche der Kunstgeschichte des 20. Jahrhunderts, z. B.bei Otto von Simson, Wittkower und Panofsky , das Erscheinungsbild der gotischen Kathedrale ikonologisch zu deuten.

Eschatologische Systeme, die zeitgleich religiös verbindlich waren wie beispielsweise die Scholastik, die Schriften einflussreicher Kirchengelehrten, Vergleiche mit der mathematischen Masshaltigkeit musikalischer Systeme versuchen Verbindungen zwischen dem Erscheinungsbild der gotischen Kathedrale und kategorisierenden Grundannahmen mathematischer und musikalischer Systeme des 11. und 12. Jahrhunderts durch direkten Vergleich herzustellen.

Dennoch bleibt unbeantwortet, welches Sinnbild die Erbauer der gotischen Kathedrale formal nutzen wollten, um unter Einhaltung „göttlicher“ Masshaltigkeit und musischer Korrelativität das Sinnbild des „himmlischen Jerusalem“ , das die Kathedrale verkörpern soll, darzustellen.

Es bleibt ein „missing link“ zwischen dem sinnbildlich Dargestellten und den Mitteln der Darstellung selbst.

Die Mittel der Darstellung nämlich waren die oben vorgestellten. Das Gebilde der gotischen Kathedrale orientiert sich an Pflanzen, pflanzlichen Konglomeraten, dem Ab- und Sinnbild des Waldes, alles, um „Wachsen“ darzustellen. „Wachsen“ als maximale Verkörperung werdenden Lebens, als Verkörperung von Hoffnung.

Andrea-Maria Glaser M.A. 20. Oktober 2019koelner-dom-innenansicht-5ea1dba8-ac81-450e-8ba0-913404923d1e.jpg

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