Evolutionäre Ästhetik und Architektur: was ist schön?

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Die ästhetische Empfindung ist gebildet und geschult an Formen, Farben und Bewegungen der Umgebung, in die der Mensch Jahrhunderttausende gestellt war. Diese Umgebung war, bis zum Beginn der industriellen Revolution mit der Veränderung der Natur zum Zwecke des Nahrungsmittelanbaus und der geradezu explosiven Vergößerung der Städte, die Umgebung der Natur, in Europa vor allem die Natur des Waldes.

An den Formen und Strukturen des Waldes, auch der Hügel, der Berge und Struktur der Bergwände formte sich evolutionär der Sinn für „das Schöne“. Das „Schöne“ wird, ausgehend von den Formen der Natur, als schön erlebt, wenn die Form bestimmte Seinszustände widerspiegelt, indiziert: Indiziert das Objekt, zum Beispiel die ornamentierte Fassade eines Gebäudes, die wichtigsten Seinszustände von Gegenständen aus der Natur, also von Pflanzen, löst dies das Gefühl von „dies ist in Ordnung, dies ist harmonisch, dies ist: „schön“ aus.

Die wichtigsten Seinszustände, die vom Menschen als „schön“ interpretiert werden, orientieren sich am Kriterium: lebend oder tot. Lebend wird sinnlich als ästhetisch positiv empfunden, tot als negativ. Zwischen diesen beiden Aussenpolen gibt es die Seinszustände des Wachsens, des Sprossens, des Knospens, der Samenstände der Blüte, der Reife,  der fruchttragenden Pflanzen, der belaubten Äste, der kahlen Äste. Farbqualitäten werden evolutionsästhetisch ebenfalls – natürlich völlig unbewusst – den Qualitäten von Wachsen, Reifen, Absterben, Tod zugeordnet.

Dies ist die evolutionsästhetisch eingelagerte kollektive „Erinnerung“ an Farbqualitäten, die mit dem Wachstumszyklus verbunden sind. Helle Farben, vor allem helles Grün ist mit der ersten Wachstumsphase des Frühlings verbungen, satte warme Farben mit der zweiten Wachstumsphase des Sommers, eine Zunahme von Rot- und Brauntönen mit der Überschreitung des Höhepunkts des Wachsens, dem Fruchttragen und langsamen Absterben und der harte Schwarzweiss-Kontrast mit der Farbe der Abwesenheit von Leben: dem Winter.

Der dritte wichtige Komplex, der evolutionsästhetisch wirksam ist, sind Silhouetten. Diese Silhouetten werden als „vollständig, nicht zerstört, wachsend“ oder als „amputiert, zerstört, im natürlichen Wachstumsprozess plötzlich abgeschnitten“ interpretiert. Die evolutionsästhetische „Erinnerung“ wurde in Jahrhunderttausenden im Anblick der Umgebung, also der Natur, ausgebildet und fixiert.

Menschen empfinden beispielsweise an Gebäuden Kuppeln als positive, angenehme Form, Kuppeln werden auch als angenehme Form empfunden, wenn der Mensch im Gebäude unter der Kuppelform steht. Die konservative Erklärung hierzu: der Mensch empfindet spontan Kuppeln als schön, angenehm, weil sie der Form der Schädelkalotte gleichen, ist nicht glaubhaft. Warum? Diese Interpretation vernachlässigt das führende Wahrnehmungskriterium: den visuell erzeugten Anblick, der visuelle Rapport zwischen Subjekt und betrachtetem Objekt. Ästhetisch positive Gefühle entstehen durch Anblick. Die eigene Schädelkalotte entzog sich Jahrhunderttausende dem Anblick des Subjekts.

Die Erklärung ist einfach: eine der in der Natur am häufigsten erscheinende Silhouette ist die Silhouette der Kuppel. Alle Laubbäume geben in ihrer Silhouette die Kuppelform wieder. Ein Laubbaum mit Laubkuppel sagt: ich bin gesund, wachsend und am Leben. Die ästhetische Empfindung „schön“ ist untrennbar mit der Empfindung „lebend“ , „gesund“ , „wachsend“ verbunden. Hierzu ist keinerlei 1:1 Naturkopie nötig. Die Empfindung kann durch jede Art von Kuppelform in der Architektur aufgerufen werden. Ähnlich verhält es sich mit Türmen, insbesondere mit Türmen mit Turmhauben und Turmspitzen. Der Turm hat eine deutlich wahrnehmbare Verbindung zur Erde, er steht exakt so, dass er der Erdanziehungskraft durch gerades Hochwachsen antwortet. Unbewußt – evolutionsästhetisch – interpretiert das Auge dies als „gesundes Hochwachsen“ also als: lebend.architectural-style-368484_960_720.jpg

Verstärkt wird dieser Reflex z.B. bei Türmen mit Hauben, geschwungenen Hauben und auf den Hauben aufgesetzten Turmspitzen. Unabhängig von der tatsächlichen Größe des Objekts – ist der Turm weit entfernt, bildet er sich ja klein auf der Netzhaut ab- ruft der Turm einen Reflex auf, der die Empfindung weckt: wächst, ist wie eine gesunde wachsende Pflanze.

Gegenprobe: die moderne Architektur gefällt sich in megalomanisch- megalithischer Ausführung von geometrischen Formen, die in der Natur nur in kleinen Objekten zu finden sind. Ein schiefes Hochhaus – möglich durch Stahlbeton – weckt die  ästhetische Antwort: interessant, aber: nicht im Sinne von Harmonie: schön. Warum? Es fehlt der evolutionsästhetisch in uns verankerte visuelle Reiz: wachsend, gerade hochwachsend, also gesund.

Bis zur Architektur des Dritten Reiches mit der Zurückdrängung von geschwungenen pflanzlichen Ornamentformen und der völligen Abwendung von der Ästhetik von Formen, die die Allusion von „Wachsen“ evozieren, boten alle Hausfassaden mit ihrer reichen pflanzlichen Ornamentik dem Betrachter die oben ausgeführten Kriterien an. Wie lebhaft variante Struktur von Felswänden erzeugt grundsätzlich denselben ästhetischen Reiz wie eine reich ornamentierte Fassade.

Mit der Ablehnung von pflanzlichen Formen, mit der Ablehnung des „Ornaments“ ,die plötzlich nach dem Jugendstil einsetzte und bis heute anhält, entstand eine Art „Kollateralschaden“ in Bezug auf die evolutionsästhetische Prägung von Menschen: die Silhouetten moderner Gebäude mit ihren Flachdächern evozieren unbewußt spontan die Assoziation:  oben abgeschnitten, amputiert.

Mit anderen Worten: nicht gesund. Jede Form, die als ästhetisch positiv bewertet wird, muss zwingend an die Hinweise „wachsend, gesund, lebend“ alludieren, in Formen, wie die Natur diese Qualiäten ausdrückt: nach oben gerichtet und sich verjüngend, bis zur Spitze, zur Blüte, zur Knospe zur Erwartung, dass bald Frucht und Reife erfolgt, das heißt: ein Hinweis auf eine positiv hoffnungstragende Zeitspanne in unmittelbarer Zukunft.

Flachdachgebäude ohne Fassadenornamentik sind für das mittels evolutionsästhetischen Kriterien seine Umgebung ästhetisch bewertende Subjekt große Objekte, die zwei Aussagen machen: an der Oberkante amputiert, also nicht komplett, gesund – und: tot. Keine Ornamentik ist: keine wachsenden Elemente, keine Blüten, Ranken, Sprosse. Folglich: tot. Der heutzutage bevorzugte harte Schwarzweiss-Kontrast von Fassadenwand und Fensterlöchern mit schwarzen Fensterrahmen verstärkt durch die Farbstellung „Winter“ (weisser Schnee, schwarze kahle Äste) den Eindruck von „tot.

Die Bauhaus-Parole „Ornament ist ein Verbrechen“ (Adolf Loos) rekurriert auf die historische Dimension von Ornamentik als Ausdruck bestimmter – im Nachgang abgelehnter – Regierungs- und historischer Perioden. Ornament zu verbannen hat denselben Effekt wie die Malerei durch ein schwarzes Quadrat auf Leinwand (Kasimir Malewitsch) abzuschaffen.

Ornament ist die architektonische Version von Natur-Umgebung, Natur-Umgebung, und sei es nur die entfernteste Allusion darauf durch ornamentale Indizien wie „wachsend, lebend“ die der Mensch aus evolutionsästhetischen Gründen braucht, um sich wohlzufühlen.

Andrea-Maria Glaser M.A.

München, den 29. Oktober 2019

 

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